Wann braucht es Antibiotika – und wann nicht?

Immer wieder stehen Hausärztinnen und Hausärzte vor dem Dilemma: Antibiotika verschreiben, ja oder nein? Das Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) entwickelt seit 2020 Hilfsmittel für den Praxisalltag, welche diese Entscheidung erleichtern sollen. Die Hilfsmittel für fünf häufige Erkrankungen sind seit Ende 2023 verfügbar und stossen in der Fachwelt auf zunehmende Resonanz.

In der Grundversorgung werden trotz steigender Antibiotikaresistenzen oft unnötig Antibiotika verschrieben, obwohl die häufigsten Infektionskrankheiten selbstlimitierend sind, also ohne therapeutische Massnahmen wieder heilen. 80 % der Antibiotikaverschreibungen werden bei fünf dieser selbstlimitierenden oder viralen Infektionskrankheiten ausgestellt:

• Akute Mittelohrentzündung
• Harnwegsinfekt
• Halsschmerzen (Tonsillopharyngitis)
• Rhinosinusitis/Sinusitis
• akuter infektiöser Husten.

Erleichterte Entscheidungsfindung
Von 2020 bis 2022 hat ein Forschungsteam des Berner Instituts für Hausarztmedizin (BIHAM) Informations- und Konsultationshilfsmittel für Arztpraxen und deren Patientinnen und Patienten entwickelt. Die Arbeiten erfolgten im Rahmen der nationalen Strategie Antibiotikaresistenzen Schweiz und mit finanzieller Unterstützung durch das BAG. Erarbeitet wurden die Hilfsmittel in Zusammenarbeit mit einer breit zusammengesetzten interprofessionellen Gruppe von Fachleuten aus den Bereichen Epidemiologie und Infektiologie. In der Gruppe vertreten waren auch Patienten und Patientinnen, Experten und Expertinnen verschiedener Fachgesellschaften sowie der Stiftung Patientensicherheit. Als Basis dienten die bestehenden Richtlinien der SSI1. Bei der Entwicklung wurden die Prinzipien der partizipativen Forschung und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verhaltensänderung angewandt. Die Literatur zeigt, dass sowohl Fachpersonen als auch Patientinnen und Patienten von einfachen, strukturierten Evidenzdarstellungen profitieren können.2-4 Diese patientengerechten Hilfsmittel für die Hausarztpraxis fördern die gemeinsame Entscheidungsfindung in der Sprechstunde und erleichtern die Diskussion über eine Antibiotikatherapie.

Das BIHAM startete 2020 mit Dokumenten zum einfachen Harnwegsinfekt, zur akuten Mittelohrentzündung und zu Halsschmerzen. Aufgrund grosser Nachfrage entwickelte das Team danach Hilfsmittel zur akuten Nebenhöhlenentzündung und zum infektiös bedingten akuten Husten, letztere mit grosser Unterstützung der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Lausanne. Alle Dokumente sind nun auf der BIHAM-Homepage in allen Landessprachen sowie Englisch frei zugänglich. Ein Moderationsleitfaden, der mit und für die Ärzteschaft entwickelt wurde, soll den Teilnehmenden der Qualitätszirkel die Anwendung der Hilfsmittel erleichtern und sie anregen, den Dialog mit den Patientinnen und Patienten im Hinblick auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung zu verbessern.

Das sind die Hilfsmittel
Das Informationsblatt umfasst die wichtigsten Bereiche wie Epidemiologie, Red Flags, Diagnostik, symptomatische und antibiotische Therapie in farblich abgesetzten Kästen. Der Abschnitt «Epidemiologie» enthält neben den wichtigsten Daten zur Epidemiologie die Klassifikation und Pathogenese der Erkrankung mit den wichtigsten Zusatzinformationen.

Arzt ipad 2
Informationsblatt: Hausärztinnen und Hausärzte brauchen Information über die Behandlung von potentiell selbstlimitierenden infektiösen Erkrankungen mit und ohne Antibiotika.

Konsultationshilfsmittel stellen die Therapieoptionen mit und ohne Antibiotika bildlich dar und erleichtern die Entscheidungsfindung für oder gegen eine Antibiotikatherapie im Gespräch zwischen Hausarzt oder -Ärztin und Patient oder Patientin. Untenstehend als Beispiel das Konsultationshilfsmittel zu «Akuter Rhinosinusitis». Dieses und alle anderen Dokumente des Projektes können auf der BIHAM-Homepage eingesehen und heruntergeladen werden.

KoHiM - Akute Rhinosinusitis 21.6-DE

Der Healthcare-Anbieter Medbase hat ein Online-Learning-Tool entwickelt, das allen Ärzten und Ärztinnen zur Verfügung gestellt werden soll. Das Tool wurde an einem Online-Workshop mit interaktiven Fragen mittels Mentimeter erfolgreich getestet.

Das Projekt zieht Kreise
Während der Erarbeitung der Hilfsmittel weitete sich das Projekt unerwartet auch auf weitere Berufsgruppen aus. So konnten Apotheker und Apothekerinnen für die Verbreitung der Dokumente gewonnen werden. Inzwischen wurde eine pharmazeutische Masterarbeit an der Universität Bern zu diesem Thema verfasst und die Hilfsmittel an die Bedürfnisse der Apotheken angepasst. Das Interesse im In- und Ausland ist gross: Die Dokumente konnten an verschiedenen Konferenzen5 im Rahmen von Kurzreferaten und Postersessions vorgestellt werden und stiessen auf grosse Resonanz. Zwei medizinische Doktorandinnen werden 2024 je einen Artikel in einer nationalen und einer internationalen Zeitschrift zu den Dokumenten publizieren.

Wie geht es weiter?
Derzeit wird die Verbreitung der Unterlagen an den medizinischen Standorten und an den Qualitätszirkeln von Medbase evaluiert. Bereits haben rund 120 Hausärztinnen und Hausärzte in 19 verschiedenen Praxen Workshops und Qualitätszirkel mit Hilfe der Unterlagen durchgeführt. In den nächsten Jahren ist eine Analyse der Antibiotikaverschreibung anhand von Versicherungsdaten geplant, finanziert durch die Stiftung Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), die SWICA und das BIHAM.

Referenzen:

  1. Diseases, S.S.f.I. SSI Guidelines. 2022 [cited 23.03.2024.]; Available from: https://ssi.guidelines.ch/
  2. Coxeter, P., Del Mar, C. B., McGregor, L., Beller, E.M., Hoffmann, T. C. (2015). Interventions to facilitate shared decision making to address
    antibiotic use for acute respiratory infections in primary care. The Cochrane database of systematic reviews,2015(11):Cd010907.
  3. Bakhit, M., Del Mar, C., Gibson, E., Hoffmann, T. (2018) Shared decision making and antibiotic benefit-harm conversations: an
    observational study of consultations between general practitioners and patients with acute respiratory infections. BMC family practice,
    19(1), 165.
  4. Rohrbasser, A., et al., Understanding how and why quality circles improve standards of practice, enhance professional development and Increase psychological well-being of general practitioners: a realist synthesis. BMJ Open, 2022. 12(5): p. e058453.
  5. Es handelt sich um Auftritte an folgenden Konferenzen:
    • EQUiP-Konferenz (European Society of Quality and Safety in Primary Care), Frühjahr 2023 in Dublin
    • SGAIM-Konferenz, Herbst 2023 in Zürich
    • Veranstaltung «Antimicrobial Stewardship in Ambulatory Care Platform (ASAP)», April 2024 in Freiburg
    • SGAIM Konferenz, Frühjahr 2024 in Basel
    • International Shared Decision Making Conference (ISDM), Sommer 2024 in Lausanne.  

Autorenschaft / Kontakt

Melinda Toth
Doktorandin Humanmedizin
melinda.toth@students.unibe.ch
Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM)
Mittelstrasse 43, 3012 Bern

Adrian Rohrbasser
Dr. Phil. and M. Sc. in Evidence Based Healthcare
adrian.rohrbasser@unibe.ch
Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM)
Mittelstrasse 43, 3012 Bern

Letzte Änderung 08.07.2024

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