Studie zeigt: Antibiotikaverschreibungen entsprechen oft nicht den nationalen Empfehlungen
10.11.2025 - Eine Analyse von über 52’000 Antibiotikaverschreibungen im Sentinella-Netzwerk zeigt: Jede fünfte Verschreibung weicht von den nationalen Empfehlungen ab, besonders bei Sinusitis und Pharyngitis. Trotz neuer nationaler Guidelines seit 2019 blieb die Verbesserung begrenzt.
Das Sentinella-Meldesystem des Bundesamts für Gesundheit (BAG) ist ein Netzwerk freiwillig teilnehmender Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung, das kontinuierlich Daten zu ausgewählten Krankheiten und Gesundheitsthemen für die öffentliche Gesundheitsüberwachung in der Schweiz liefert. Seit 2017 wird in Sentinella die Antibiotika-Studie durchgeführt, um für die Umsetzung der Strategie Antibiotikaresistenzen (StAR) ein besseres Bild der Antibiotika-Verschreibungspraxis in der Schweiz zu erhalten. Eine Besonderheit der Daten aus der Sentinella-Studie ist, dass diese im Gegensatz zu den anderen Systemen der Antibiotika-Verbrauchsüberwachung auch die Indikationen enthalten, für welche Antibiotika verschrieben wurden.
Ein Forschungsteam aus Lausanne und Bern analysierte die Sentinella-Daten nun erstmals darauf, inwiefern diese mit den nationalen Empfehlungen übereinstimmen, die 2019 von der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie (SSI) veröffentlicht wurden. Die Wahl des richtigen Wirkstoffs ist bei einer Antibiotikatherapie zentral, um die Entstehung von Resistenzen zu limitieren. Für diese Auswertung wurden mehr als 52’000 von 2017 bis 2022 im Sentinella-Netzwerk gemeldete Antibiotikaverschreibungen analysiert.
Abbildung 1: Anteil der empfohlenen und nicht empfohlenen Antibiotikaverordnungen nach klinischer Indikation seit Einführung der nationalen Empfehlungen.
Die Ergebnisse zeigen: Fast jede fünfte Verschreibung entspricht nicht den Empfehlungen – 18 % bei Erwachsenen, 19 % bei Kindern. Das bedeutet, dass das verschriebene Antibiotikum weder dem empfohlenen Wirkstoff der ersten Wahl noch den empfohlenen Alternativen entspricht. Bestimmte Indikationen weisen besonders hohe Nichtübereinstimmungsraten auf, insbesondere Sinusitis bei Erwachsenen (39 %) und Pharyngitis bei Kindern (38 %, siehe Abbildung 1). Die am häufigsten verschriebenen nicht empfohlenen Antibiotikaklassen bei Erwachsenen waren Penicilline in Kombination mit einem Beta-Lactamase-Inhibitor bei Pharyngitis (24 %) und Makrolide bei Sinusitis (18 %).
Zudem wurden bei erwachsenen Patientinnen und Patienten bei fast allen klinischen Indikationen häufiger Zweitlinien-Antibiotika verschrieben als die empfohlene Erstlinientherapien. Zwar kann aus den Sentinella-Daten nicht abgeleitet werden, dass diese Verschreibungen unsachgemäss sind, jedoch deutet der sehr hohe Anteil darauf hin, dass Zweitlinien-Antibiotika auch für Fälle verschrieben werden, in denen dies nicht von den nationalen Richtlinien empfohlen wird.
Abbildung 2: Veränderung des Anteils der empfohlenen und nicht empfohlenen Antibiotikaverschreibungen vor und nach Einführung der nationalen Empfehlungen bei Erwachsenen (a, oben) und Kindern (b, unten).
Die Einführung der nationalen Empfehlungen hat zu einer teilweisen Verbesserung geführt: So gab es einen deutlichen Rückgang der nicht empfohlenen Verschreibungen bei Sinusitis (48 % → 39 %) und Lungenentzündung (19 % → 15 %) bei Erwachsenen und bei allen Indikationen bei Kindern. Dagegen hat die Abweichung bei Pharyngitis bei Erwachsenen zugenommen (22 % → 29 %, siehe Abbildung 2).
Eine Multivarianz-Analyse ergab mehrere Faktoren, die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für die Verschreibung eines nicht empfohlenen Antibiotikums assoziiert sind: Die klinische Indikation (vor allem Pharyngitis), das Alter des Arztes oder der Ärztin, die Fachrichtung Allgemeinmedizin (im Gegensatz zu Pädiatrie) und die Einschätzung des Arztes oder er Ärztin, dass der Patient oder die Patientin einer Antibiotikaverschreibung positiv gegenübersteht.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die blosse Veröffentlichung von Empfehlungen keine Garantie für deren systematische Umsetzung ist. Um die Einhaltung der Empfehlungen zu verbessern, müssen die Implementierungsstrategien gestärkt werden, beispielsweise durch die Erleichterung ihrer Integration in die elektronischen Praxisinformationssysteme, durch gezielte Informationen in Fortbildungen und durch die Einbeziehung von Hausärztinnen und Hausärzten in die Ausarbeitung und Aktualisierung der Empfehlungen, um diese besser an die Realität der medizinischen Grundversorgung anzupassen.


