"Der Wert der Rechtsstaatlichkeit in einer unsicheren Welt"
Berna, 09.05.2025 — Mitgliederversammlung Verein "Unser Recht", Rede von Bundesrat Beat Jans
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Mitglieder des Vereins
Wie Sie wissen, bin ich nicht Jurist. Ich bin Naturwissenschaftler: "Es gilt, was gilt – bis es nicht mehr gilt". Was zählt sind Fakten. Messbare, belastbare.
Dann wurde ich Politiker. Dort stehen Werte, Ideologien und Interessen im Vordergrund. "Ich habe Recht, alles andere ist schlecht". Soweit so klar und simpel.
Aber jetzt bin ich Justizminister. Jetzt ist es komplizierter.
Sie kennen das Bonmot: "Zwei Juristen, drei Meinungen". Tatsächlich werde ich immer wieder mit sich widersprechenden juristischen Auffassungen konfrontiert.
Für den Naturwissenschaftler und manchmal auch für den Politiker in mir ist das nicht immer einfach.
Aber es gibt auch unbestrittene rechtsstaatliche Grundsätze, welche unser Staatswesen tragen. Ein Glück gibt es Vereine wie diesen, der diese Grundsätze hochhält und in die Gesellschaft trägt. "Unser Recht" baut Brücken zwischen Recht und Politik und bietet eine Plattform für wichtige Diskussionen. Eine Plattform, von der ich bis zu meiner Wahl in den Bundesrat als Vereinsmitglied profitiert habe und die ich jetzt in meiner Rolle als Justizminister noch viel mehr schätze.
Umso mehr freut es mich, heute hier zu sein und mich mit ihnen auszutauschen. Herzlichen Dank für die Einladung.
Natürlich stehe ich jetzt auch etwas unter Druck, so als einziger Redner.
Aber dass ich unter Druck stehe, ist nicht so tragisch.
Tragisch ist, dass die Demokratie unter Druck steht. Weltweit. Autokratische Bewegungen und Ideen haben plötzlich wieder Aufwind – sogar in stabilen und traditionsreichen Demokratien.
Die Machtpolitik ist zurückgekehrt, in atemberaubendem Tempo und leider auch in der westlichen Welt. Fakten als Basis für politisches Handeln und eine freie Meinungsbildung sind gefährdet. Genauso die Menschenrechte.
Das "Ende der Geschichte", welches der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausrief, lässt nicht nur auf sich warten – es droht vielerorts gar ein Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten.
Die regelbasierte Ordnung und die Weltwirtschaft werden umgepflügt, sicher Geglaubtes wird unsicher, Stabilität kommt ins Wanken. Wir erleben gerade einen harten Belastungstest für den Rechtsstaat.
Doch was ist das eigentlich, ein Rechtsstaat?
Und was macht ihn aus?
Diese Fragen mögen in Ihren Ohren banal klingen. Natürlich kennen Sie die Antworten darauf. Doch in diesen Zeiten lohnt es sich für uns alle, über vermeintliche Selbstverständlichkeiten nachzudenken. Denn sie sind fragiler, als uns lieb ist, fragiler, als wir vielleicht wahrhaben wollen.
In einem Rechtsstaat ist die Ausübung von Macht an das Recht gebunden. Der Staat, also Regierung, Verwaltung oder die Gerichte, dürfen nicht einfach machen, was sie wollen.
Sie müssen sich an die Gesetze halten, Gesetze gelten für alle. Das Recht bildet den Rahmen für jedes politische Handeln.
Ein Rechtsstaat garantiert seinen Bürgerinnen und Bürgern Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Schutz von Eigentum oder das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Das Primat des Rechts und die Gewährleistung der Menschenrechte sind das Wesensmerkmal demokratisch verfasster Staaten und unterscheiden uns von Diktaturen und Unrechtsstaaten.
In einem Rechtsstaat wird die Gewaltenteilung respektiert und Gerichtsurteile werden akzeptiert. Es gilt das Recht – und nicht die Willkür. Das schafft Rechtssicherheit – und Rechtssicherheit schafft Vertrauen. Ohne Vertrauen, keine Demokratie.
In der Schweiz haben wir einen Rechtsstaat, der funktioniert. Und wir haben eine Demokratie, die funktioniert.
Von den politischen Verwerfungen, wie sie derzeit in der Türkei, in gewissen Staaten Osteuropas oder ansatzweise in den USA stattfinden, sind wir – zum Glück – weit entfernt. Und doch müssen wir wachsam bleiben.
Der Blick in die Geschichte zeigt: Selten wird der Rechtsstaat von heute auf morgen zerschlagen. Vielmehr wird er langsam und kontinuierlich abgebaut, während die formale Architektur der Demokratie bestehen bleibt: Es finden Wahlen statt, nur sind sie nicht frei. Es gibt eine politische Opposition, nur ist sie machtlos. Es gibt Gerichte und Medien, nur sind sie nicht unabhängig.
Die beiden Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Lucan A. Way nennen das "kompetitiver Autoritarismus". Wenn der Rechtsstaat erst einmal ausgehöhlt ist, wird es schwierig, ihn wieder herzustellen.
Die Schweiz wirkt vor diesem Hintergrund wie eine glückselige Insel der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit. Doch es gibt auch hierzulande Tendenzen,
die uns beunruhigen sollten:
- Der politische Diskurs wird auch in der Schweiz härter, die Sprache roher. Botschaften werden simpler, Positionen unversöhnlicher.
- Das ist mit ein Grund dafür, weshalb sich immer weniger Menschen politisch engagieren – sei es in einem Amt, einer Organisation oder einer Partei.
- Auch hierzulande ist man nicht gefeit vor der zersetzenden Kraft der Sozialen Medien und ihrer Desinformation.
- Es gibt auch in der Schweiz die Unsitte, das Recht nur dann zu akzeptieren, wenn es sich mit der eigenen politischen Position deckt. Gerichtsurteile werden mit dem Label "politisch" delegitimiert, juristische Gutachten oder Urteile mit politischen Meinungen gleichgesetzt.
Das Gute ist: Wir können etwas tun gegen solche Entwicklungen. Wir können den Rechtsstaat stärken. Indem wir Minderheiten schützen, die Verfassung und ihre verbrieften Grundrechte verteidigen. Sei es in der Politik oder im Privaten.
Warum? Weil der Rechtsstaat ein wichtiger Garant ist für eine selbstbestimmte Gesellschaft und für ein Leben in Freiheit.
"Freiheit ist kein Zustand, sondern eine Tätigkeit",
hat der kürzlich verstorbene Peter von Matt in einem seiner hochgeschätzten Essays geschrieben. Das sollten wir uns zu Herzen nehmen.
Ein erster Schritt ist, dass wir die Bedeutung des Rechtsstaats und der demokratischen Institutionen erklären. Dass wir ihre schützende Kraft für unsere Gesellschaft aufzeigen, für jede und jeden von uns.
Ich glaube, die politischen Erdbeben auf der Welt schütteln uns gerade deshalb so durch, weil wir Vieles zu lange für selbstverständlich gehalten haben.
Uns muss wieder bewusstwerden: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind niemals selbstverständlich. Sie müssen verteidigt und immer wieder neu ausgehandelt, manchmal auch erkämpft werden.
Wir müssen für die Meinungsfreiheit, für den Schutz von Minderheiten, für den Rechtsstaat einstehen.
Denn, so sagt es die Historikerin Anne Applebaum:
"Die Argumente für Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit verstehen sich nicht von selbst und sie liegen auch nicht einfach so auf der Hand".
Anne Applebaum und viele andere gescheite Denkerinnen und Denker unserer Zeit, plädieren deshalb dafür, zusammenzustehen. Autokratien agieren vereint – also müssen Demokratinnen und Demokraten es ihnen gleichtun.
Auch wir in der Schweiz. Wer die Demokratie stärkt, stärkt auch den Rechtsstaat:
- Demokratie braucht starke Institutionen: Ein freies Parlament, Gesetze und unabhängige Gerichte, freie Medien, Verbände und Organisationen, Universitäten, Kunst und Kultur, eine starke Zivilgesellschaft. "Institutionen helfen uns, den Anstand zu wahren", schreibt der Historiker Timothy Snyder. Und Anstand ist die Grundvoraussetzung für ein friedliches Zusammenleben.
- Demokratie braucht Fakten: "Fakten preiszugeben heisst, die Freiheit preiszugeben. Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand die Macht kritisieren". Auch dieses Zitat stammt von Timothy Snyder. Snyder ist Amerikaner. Doch auch bei uns rutscht der politische Diskurs zuweilen ins "Faktenfreie" ab. Das hat die Corona-Pandemie gezeigt. Autokratische Staaten setzen auf Desinformation, um demokratische Staaten zu destabilisieren.
Halten wir die Vernunft hoch.
Snyder lehrte übrigens an der renommierten Universität Yale. Im März ist er gemeinsam mit seiner Frau – auch sie ist Professorin für Geschichte – nach Kanada ausgewandert. - Demokratie braucht Engagement: Wer sich in der Politik oder der Zivilgesellschaft einsetzt, hält die Demokratie lebendig. Wer sich engagiert, für einen guten Zweck oder eine politische Idee, tauscht sich mit Menschen aus, stiftet Sinn. Das stärkt den Zusammenhalt und das Miteinander.
Meine Damen und Herren,
Heute ist ein besonders guter Tag, um die Kraft dieses Miteinanders zu feiern. Denn heute vor 75 Jahren wurde der Grundstein für Frieden in Europa gelegt.
Der damalige französische Aussenminister Robert Schuman forderte in einer Rede die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – kurz EGKS. Die Mitglieder sollten einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl haben, ohne Zoll zahlen zu müssen. Sie wollten so die Gefahr von weiteren Kriegen auf dem Kontinent bannen.
Gegründet wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl von Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Die EGKS war die erste supranationale europäische Institution, die Keimzelle der EU.
Man kann sagen, Schuman und die Gründerstaaten haben ihr Ziel erreicht: Bis heute ist Europa grossmehrheitlich friedlich geblieben. Auch das ist alles andere als selbstverständlich.
"Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Grösse der Bedrohung entsprechen"
Mit diesen Worten eröffnete Schuman damals seine Rede. Das Zitat ist heute wieder sehr aktuell.
Liebe Mitglieder von "Unser Recht",
Wir können den Wert der Rechtsstaatlichkeit nicht genug würdigen. Wenn wir die Rechtsstaatlichkeit stärken und wenn nötig auch verteidigen, tun wir das nicht nur für uns. Wir tun es für alle Menschen auf der Welt, die auch in diesen stürmischen Zeiten an Demokratie und Freiheit glauben.
Mit Ihrer Mitgliedschaft im Verein "Unser Recht" tragen Sie zu dieser Stärkung bei. Sie engagieren sich, sind Teil einer aktiven Zivilgesellschaft und pflegen so die gesunde Debattenkultur.
Seien es die Unabhängigkeit der Justiz, die neuen Verträge mit der EU und die damit verbundenen juristischen Fragen oder die Menschenrechte – etwa im Kontext des sich verschärfenden Migrationsdiskurses – die Themen werden uns so schnell nicht ausgehen.
Als Bundesrat, als Justizminister aber auch als Bürger bin ich Ihnen dankbar für Ihr Engagement. Bringen Sie sich weiterhin ein. Ihre Stimmen sind wichtig.
Es ist erschreckend, wie schnell zivilisatorische Errungenschaften erodieren können. Wie schnell das selbstherrliche Benehmen bestimmter Weltenführer Nachahmung findet.
Dem müssen wir etwas entgegensetzen: Nur wenn auch wir zusammenstehen und uns für unsere Werte, für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, können wir andere dazu motivieren, es uns gleich zu tun.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit – und freue mich auf den Austausch.